Gyn-Depesche 1/2001

Über die Frau in der Gesellschaft, ihr Selbstverständnis und die psychische Belastung der Diagnose "Brustkrebs"

Redaktion: Sie sagen, die Verlängerung der sozialen Adoleszenz heutzutage durch das sehr frühe Eintreten der Pubertät ermöglicht es dem Individuum, seinen eigenen Rhythmus zu finden, mit welchem er das Leben meistert. Ist nicht das zwölfjährige Mädchen psychisch mit der Rolle der frühen Weiblichkeit überfordert? Prof. Dr. Dr. med. M. Neises: Die Pubertät umfasst die Periode hormonell gesteuerter körperlicher Veränderungen mit der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale und dem Erreichen der Fertilität. In der Bewertung ist das vermutlich beeindruckendste Ereignis das Einsetzen der Menstruation. Mit dem Begriff der Adoleszenz werden die Auswirkungen dieser biologisch fundierten körperlichen Veränderungen auf das psychische Erleben und die sie begleitenden soziokulturellen Prozesse erfasst. Von Erdheim wurde das Konzept der Adoleszenz als zweite Chance vertreten, d. h. dass gerade in dieser Entwicklungsphase frühere Erfahrungen modifiziert und sogar korrigiert werden können und neue Lösungen für alte Konflikte möglich sind. Erschwert wird die selbstbewusste Aneignung des Körpers für Mädchen heute durch die häufige Fehlbenennung oder Nichtbenennung weiblicher Genitalien in der Kindheit. Mit Beginn der Pubertät erlebt es eine von außen herangetragene Sexualisierung des Körpers, de zunächst mit seinen eigenen Gefühlen und sexuellen Empfindungen wenig zu tun hat. Die schwierige Aufgabe für das adoleszente Mädchen besteht darin, den veränderten Körper wieder in Besitz zu nehmen. Die Verlängerung der Adoleszenz mit Verlängerung der Ausbildung und auch häufig späteren Gründung der eigenen Familie gibt den Mädchen die Chance, diese Entwicklung im eigenen Zeitrhythmus abzuschließen. Kann eine Frau heute frei in ihrer Entscheidung sein, d. h. ist es die Freude oder sind es die Erwartungen der Frauen an sich selbst, Karriere oder Beruf und Familie und Kinder unter einen Hut zu bringen oder ist es die Gesellschaft, die dies mittlerweile von den Frauen selbstverständlich erwartet? Das Dilemma von Frauen heute in der Entscheidung für Kinder und Karriere zeigt sich nach wie vor an den besonderen Problemkonstellationen, mit denen schon Mädchen konfrontiert sind, und zwar mit der Diskrepanz zwischen Wünschen und Interessen an beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten und den Chancen zur Realisierung auf dem Arbeitsmarkt. Die unbewusste Gleichung in unserer Gesellschaft lautet nach wie vor: Weiblichkeit = Bindung = Familie. Unter den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen sind berufliche Erfolge und die Selbstdefinition über Leistungen und Fähigkeiten immer noch weitgehend männliches Terrain und damit lebensgeschichtlich überwiegend an den Vater geknüpft. Das typische Tochter-Dilemma lautet: Wie kann die Tochter dem Vater ähnlich und dennoch Frau sein? Eine Chance unserer Gesellschaft heute ist die zunehmende Wahlmöglichkeit von Frauen und wünschenswert ist, dass Frauen sich so selbstverständlich wie Männer Familie und Karriere wünschen. Wie verweigert sich die überlastete Frau der Erwartung? Die Verunmöglichung einer befriedigenden Form von Selbstbehauptung und Differenzierung führt bei Frauen zu ganz spezifischen Verletzungen. Frauen zeigen eine stärker ausgeprägte Körperwahrnehmung. Die großen biologischen Umwälzungen im Laufe ihres Lebens befähigen nach Ansicht einiger Autorinnen Frauen und Mädchen, in großem Maße, körperliche Empfindungen wahrzunhemen, zu bewerten und verbal zu äußern. Im Problembewältigungsverhalten führt dies im Vergleich zu Jungen häufiger zu nach innen gerichteten psychischen Störungen wie z. B. Depressionen oder auch psychosomatischen Erkrankungen. Brustkrebs zählt weltweit zu der häufigsten Krebserkrankung der Frauen, Tendenz zunehmend. Ist ein gesellschaftlicher / psychosomatischer Zusammenhang wahrscheinlich? Die Frage führt in den Bereich des Spekulativen. Forschungen der 70er Jahre, die zum Gegenstand hatten, inwieweit Persönlichkeitsfaktoren an einer Entstehung beteiligt sein können, haben sich als nicht haltbar erwiesen. In meiner Arbeit mit Frauen nach Brustkrebserkrankung ist mir wichtig, wie die psychischen Folgen verarbeitet werden können. Wichtig dabei ist mir zu erfahren, welche Vorstellung und Phantasien die Frauen selbst über das Entstehen und die Ursache ihrer Erkrankung haben, um dies im Sinne der subjektiven Krankheitstheorie in die Bearbeitung einzuführen. In einer Veröffentlichung sprechen Sie davon, dass die Prädisposition des Menschen seine Konstitution wesentlich beeinflusst und beide die Psyche reflektieren. Mit welchen psychischen / psychosomatischen Symptomen an Krebs erkrankter Frauen werden Sie in Ihrer Klinik konfrontiert? Es lässt sich in unserer Konstitution nicht auseinander dividieren, was wir an psychischer und körperlicher Ausstattung mitbringen, wie dies in der individuellen Entwicklung durch die jeweilige Lebenslerngeschichte ausgestaltet wird. Dies geschieht vor einem gesellschaftlichen Hintergrund. Die Diagnose "Krebs" ist auch heute noch ein Schock und wird individuell sehr unterschiedlich verarbeitet. Generell lässt sich sagen, dass 30% aller Krebserkrankten psychosomatisch-psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen, während die psychische Belastung und psychische Erkrankungen mit bis zu 50% angegeben werden. Dazu gehören überwiegend Belastungsreaktionen und depressive Erkrankungen sowie Angststörungen.

Redaktion: Sie sagen, die Verlängerung der sozialen Adoleszenz heutzutage durch das sehr frühe Eintreten der Pubertät ermöglicht es dem Individuum, seinen eigenen Rhythmus zu finden, mit welchem er das Leben meistert. Ist nicht das zwölfjährige Mädchen psychisch mit der Rolle der frühen Weiblichkeit überfordert? Prof. Dr. Dr. med. M. Neises: Die Pubertät umfasst die Periode hormonell gesteuerter körperlicher Veränderungen mit der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale und dem Erreichen der Fertilität. In der Bewertung ist das vermutlich beeindruckendste Ereignis das Einsetzen der Menstruation. Mit dem Begriff der Adoleszenz werden die Auswirkungen dieser biologisch fundierten körperlichen Veränderungen auf das psychische Erleben und die sie begleitenden soziokulturellen Prozesse erfasst. Von Erdheim wurde das Konzept der Adoleszenz als zweite Chance vertreten, d. h. dass gerade in dieser Entwicklungsphase frühere Erfahrungen modifiziert und sogar korrigiert werden können und neue Lösungen für alte Konflikte möglich sind. Erschwert wird die selbstbewusste Aneignung des Körpers für Mädchen heute durch die häufige Fehlbenennung oder Nichtbenennung weiblicher Genitalien in der Kindheit. Mit Beginn der Pubertät erlebt es eine von außen herangetragene Sexualisierung des Körpers, de zunächst mit seinen eigenen Gefühlen und sexuellen Empfindungen wenig zu tun hat. Die schwierige Aufgabe für das adoleszente Mädchen besteht darin, den veränderten Körper wieder in Besitz zu nehmen. Die Verlängerung der Adoleszenz mit Verlängerung der Ausbildung und auch häufig späteren Gründung der eigenen Familie gibt den Mädchen die Chance, diese Entwicklung im eigenen Zeitrhythmus abzuschließen. Kann eine Frau heute frei in ihrer Entscheidung sein, d. h. ist es die Freude oder sind es die Erwartungen der Frauen an sich selbst, Karriere oder Beruf und Familie und Kinder unter einen Hut zu bringen oder ist es die Gesellschaft, die dies mittlerweile von den Frauen selbstverständlich erwartet? Das Dilemma von Frauen heute in der Entscheidung für Kinder und Karriere zeigt sich nach wie vor an den besonderen Problemkonstellationen, mit denen schon Mädchen konfrontiert sind, und zwar mit der Diskrepanz zwischen Wünschen und Interessen an beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten und den Chancen zur Realisierung auf dem Arbeitsmarkt. Die unbewusste Gleichung in unserer Gesellschaft lautet nach wie vor: Weiblichkeit = Bindung = Familie. Unter den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen sind berufliche Erfolge und die Selbstdefinition über Leistungen und Fähigkeiten immer noch weitgehend männliches Terrain und damit lebensgeschichtlich überwiegend an den Vater geknüpft. Das typische Tochter-Dilemma lautet: Wie kann die Tochter dem Vater ähnlich und dennoch Frau sein? Eine Chance unserer Gesellschaft heute ist die zunehmende Wahlmöglichkeit von Frauen und wünschenswert ist, dass Frauen sich so selbstverständlich wie Männer Familie und Karriere wünschen. Wie verweigert sich die überlastete Frau der Erwartung? Die Verunmöglichung einer befriedigenden Form von Selbstbehauptung und Differenzierung führt bei Frauen zu ganz spezifischen Verletzungen. Frauen zeigen eine stärker ausgeprägte Körperwahrnehmung. Die großen biologischen Umwälzungen im Laufe ihres Lebens befähigen nach Ansicht einiger Autorinnen Frauen und Mädchen, in großem Maße, körperliche Empfindungen wahrzunhemen, zu bewerten und verbal zu äußern. Im Problembewältigungsverhalten führt dies im Vergleich zu Jungen häufiger zu nach innen gerichteten psychischen Störungen wie z. B. Depressionen oder auch psychosomatischen Erkrankungen. Brustkrebs zählt weltweit zu der häufigsten Krebserkrankung der Frauen, Tendenz zunehmend. Ist ein gesellschaftlicher / psychosomatischer Zusammenhang wahrscheinlich? Die Frage führt in den Bereich des Spekulativen. Forschungen der 70er Jahre, die zum Gegenstand hatten, inwieweit Persönlichkeitsfaktoren an einer Entstehung beteiligt sein können, haben sich als nicht haltbar erwiesen. In meiner Arbeit mit Frauen nach Brustkrebserkrankung ist mir wichtig, wie die psychischen Folgen verarbeitet werden können. Wichtig dabei ist mir zu erfahren, welche Vorstellung und Phantasien die Frauen selbst über das Entstehen und die Ursache ihrer Erkrankung haben, um dies im Sinne der subjektiven Krankheitstheorie in die Bearbeitung einzuführen. In einer Veröffentlichung sprechen Sie davon, dass die Prädisposition des Menschen seine Konstitution wesentlich beeinflusst und beide die Psyche reflektieren. Mit welchen psychischen / psychosomatischen Symptomen an Krebs erkrankter Frauen werden Sie in Ihrer Klinik konfrontiert? Es lässt sich in unserer Konstitution nicht auseinander dividieren, was wir an psychischer und körperlicher Ausstattung mitbringen, wie dies in der individuellen Entwicklung durch die jeweilige Lebenslerngeschichte ausgestaltet wird. Dies geschieht vor einem gesellschaftlichen Hintergrund. Die Diagnose "Krebs" ist auch heute noch ein Schock und wird individuell sehr unterschiedlich verarbeitet. Generell lässt sich sagen, dass 30% aller Krebserkrankten psychosomatisch-psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen, während die psychische Belastung und psychische Erkrankungen mit bis zu 50% angegeben werden. Dazu gehören überwiegend Belastungsreaktionen und depressive Erkrankungen sowie Angststörungen.

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