Editorial

Gyn-Depesche 1/2018

Der unbeliebte Blick in die Kristallkugel

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
 
Welche Patientin wird mit welcher Wahrscheinlichkeit an welcher Erkrankung sterben? Diese Frage stellt sich in der Praxis manchmal, und häufig ermöglichen Daten aus wissenschaftlichen Studien eine Antwort.
Eine Untersuchung von Gigerenzer G et al. fand heraus, dass die meisten Menschen aber gar keine Details wissen möchten, wenn es um ihre Zukunft geht (Psychological Review 2017). In Deutschland und Spanien wurden repräsentativ mehr als 2000 Erwachsene befragt, zum Beispiel ob sie heute bereits wissen wollen, wann sie sterben werden. Das Überraschende: 86 bis 90% der Befragten wollten bevorstehende negative Ereignisse nicht wissen – und 40 bis 77% lehnten es ab, etwas über zukünftige Glücksfälle zu erfahren. Viele Menschen weisen also eine so genannte „willentliche Ignoranz“ auf (deliberate ignorance).
Dennoch, zur Beratung von Patientinnen sind Studiendaten unabdingbar, denn der Glaskugel sollte man in diesen Fällen nicht vertrauen. Deshalb lesen Sie in dieser Ausgabe der Gyn-Depesche zum Beispiel, wie hoch die Thrombosegefahr bei Pilleneinnahme ist (S. 10 und 12), wie groß das Fehlbildungsrisiko nach ART ist (S. 14), und wie es um die Mortalitätserhöhung bei Hormonersatztherapie steht (S. 22).
Auf die Frage, ob man das Geschlecht des ungeborenen Kindes wissen möchte, wenn es mit 100%iger Sicherheit feststellbar wäre, antworteten übrigens 40% mit „nein“ und 16% wollten die Entscheidung vom Partner treffen lassen. Trotz sicherer Vorhersage möchten viele Menschen also ihre Zukunft nicht kennen. Da kommt einem Kassandra in den Sinn, die Tochter des trojanischen Königs in der griechischen Mythologie: Ihr Leiden bestand darin, dass sie die Zukunft vorhersehen konnte, sie aber auch dazu verflucht war, dass niemand ihren Prophezeiungen Glauben schenkte.
 
Ihr
Dr. med. Christian Bruer
Chefredakteur

Alle im Rahmen dieses Internet-Angebots veröffentlichten Artikel sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch Übersetzungen und Zweitveröffentlichungen, vorbehalten. Jegliche Vervielfältigung, Verlinkung oder Weiterverbreitung in jedem Medium als Ganzes oder in Teilen bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verlags.

x