Der Notfall Schulterdystokie tritt bei 0,2 bis 3,0% aller vaginalen Geburten auf und kann schwere Schäden beim Neugeborenen nach sich ziehen. Verletzungen des Plexus brachialis (BPI, brachial plexus injuries) sind die häufigste neurologische Folge. Typischerweise äußern sie sich in einseitiger Armschwäche und Asymmetrie beim Moro-Reflex mit beeinträchtigter aktiver Abduktion des Armes. Über BPI in 4 bis 40% nach Schulterdystokie wird berichtet. Einen dauerhaften Schaden trägt bei 10 000 Geburten ungefähr ein Baby davon.
Bei Schulterdystokie müssen ein oder mehrere geburtshilfliche Manöver gekonnt und rechtzeitig durchgeführt werden, um schwere Morbidität inkl. BPI vom Baby abzuwenden. Belege zu Typ und Abfolge der effektivsten Maßnahmen fehlen. Das McRoberts-Manöver und suprapubischer Druck werden generell als erste Maßnahme empfohlen; sonst unterscheiden sich die Leitlinien*.
Um mehr Platz am Perineum zu schaffen und so potenziell die Entbindung zu erleichtern, haben manche Autoren die Episiotomie als eine frühe Standardintervention empfohlen; andere haben sogar zu einem absichtlichen, Proktoepisiotomie genannten Dammschnitt Grad IV geraten. Bei Qualitätssicherungsmaßnahmen wird oft eine fehlende Episiotomie bei Schulterdystokie mit Folgen als verbesserungswürdig erwähnt. Da wegen Schulterdystokie-Folgen für Babys oft prozessiert wird, haben Leitlinien zu diesem Thema auch rechtliche Konsequenzen.
Theoretisch fragwürdig
Theoretisch hilft die Episiotomie, wenn Weichteile die Geburt behindern. Die Schulterdystokie entsteht aber durch knöchernes Aufeinandertreffen der vorderen Schulter des Fetus auf das hintere Os pubis oder seltener der hinteren Schulter auf das Promontorium des Kreuzbeins. Den Nutzen der Episiotomie hierbei haben viele Autoren in Frage gestellt.
Vom 1.9.1998 bis 31.8.2009 fanden am Brigham and Women’s Hospital 94 842 Geburten statt, 67 949 davon vaginal. Die Sectio-Rate nahm fast in jedem Jahr zu (Maximum 34% im Jahr 2008). Die Quote der Schulterdystokien (953 Fälle) bei den vaginalen Geburten blieb mit 1,1 bis 1,9% gleich. Die Episiotomie-Quote bei allen vaginalen Geburten ging von 33 (2009) auf 3% zurück. Bei den Fällen mit Schulterdystokie sank sie von 40 auf 4%. Die Zahl der Babys mit BPI pro 1000 vaginale Geburten veränderte sich nicht (über die Jahre 0,53 bis maximal 2,68; 102 Fälle).
Die Autoren werten dies als Indizienbeweis dafür, dass das Durchführen eines Dammschnitts nicht entscheidend für die Risikominderung der BPI bei Schulterdystokie ist. Diese Ergebnisse passen zu früheren Studien, die zeigten, dass die Episiotomie die neonatale Morbidität nicht reduzierte. Die Autoren zitieren drei Untersuchungen. In einer plädierte man dafür, den Eingriff nur durchzuführen, wenn Platz für bestimmte Manöver gebraucht wird.
Die Episiotomie scheint den Babys nicht zu nutzen, doch deuten Belege darauf hin, dass das Risiko für die Mütter steigt. Geburten mit Schulterdystokie sind mit schwereren perinealen Rissen assoziiert als die gesamten vaginalen Entbindungen. Findet ein Dammschnitt statt, scheint dies die Gefahr des perinealen Traumas noch weiter zu erhöhen. In einer Studie zu Schulterdystokie registrierte man bei Dammschnitt siebenmal mehr Risse dritten und vierten Grades. Konnten die Maßnahmen am Fetus ohne Episiotomie durchgeführt werden, behielt die Hälfte der Frauen ein intaktes Perineum.
Die Verfasser erwähnen mehrere Fehler-Möglichkeiten bei den Ergebnissen, entkräften sie aber teilweise wieder. Nicht durchführbar war eine Verknüpfung der Daten von Müttern und Babys gewesen. Daher konnten die Raten der Plexusverletzungen nicht auf die Fälle von Schulterdystokie bezogen werden. Ein beträchtlicher Anteil der BPIs ist nicht mit Schulterdystokie assoziiert (34 bis 47%), so finden sich 4% nach Sectiones. Die Auswirkungen auf die Daten lassen sich nicht sicher benennen. In zukünftigen Studien könnte dies besser werden.
Trotz früherer Empfehlungen zeigen die Daten nicht, dass die Neugeborenen in puncto BPI von der Episiotomie bei Schulterdystokie profitieren. Die Verfasser empfehlen daher, die Intervention auf sorgfältig ausgewählte Fälle zu begrenzen, in denen nach Ermessen des Arztes Manöver zur Entbindung ohne Episiotomie nicht vernünftig möglich sind. SN
*http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-024.html