In den Augen von Dr. Vincenzo Puppo, Bologna, ist die sexuelle Dysfunktion ein ausgedachtes Konzept der Pharmaindustrie. Denn im Fokus der Diagnose gemäß Female Sexual Function Index (FSFI) stehen Lubrikation und Penetration. Die klitorale Stimulation der Frau findet dagegen nur wenig Beachtung. Diese ist allerdings die Basis für den weiblichen Orgasmus und damit für die sexuelle Zufriedenheit der Frau, so Puppo. Einen vaginalen Orgasmus gibt es seiner Meinung nach nicht. Daher sei auch der FSFI zur Evaluation der weiblichen Sexualfunktion ungeeignet. Ein besseres Maß wäre die Fähigkeit der Frau, durch Masturbation einen Orgasmus zu erreichen.
Dr. Ranee Thacker, Croydon, UK, hält die sexuelle Dysfunktion hingegen durchaus für ein reales Problem, zu dem neben körperlichen Faktoren auch emotionale, psychische und soziale Komponenten beitragen. Laut Thacker geht es vor allem um die richtige Definition. Ihrer Ansicht nach liegt eine sexuelle Dysfunktion nur dann vor, wenn sich eine Frau durch ein Problem auch gestört fühlt. In einer britischen Befragung gaben über 50% der Frauen an, Probleme zu haben. Doch nur rund 10% fühlten sich dadurch gestört. Diese Unterscheidung wird oft nicht gemacht und die Prävalenz daher häufig weit überschätzt. Was eigentlich normal ist, wird heute gerne zum Problem gemacht, so Thacker. Hinzu kommt, dass die Medien ein überzogenes Bild der weiblichen Sexualität vermitteln. Um sexuelle Dysfunktionen zu untersuchen, müsste zunächst definiert werden, was eine „normale“ sexuelle Funktion ist. OH
KONTROVERSE: Sexuelle Dysfunktion der Frau
Gyn-Depesche 5/2015
Mythos oder medizinisches Problem?
Zur sexuellen Dysfunktion zählen Minderungen der Libido, der Erregbarkeit und Orgasmusfähigkeit sowie Schmerzen bei sexueller Stimulation. Viele zweifeln an der Realität dieses Konzepts. Liegt das Problem vielleicht ganz woanders?
Quelle:
Puppo V: Female sexual dysfunction ... BJOG 2015; 122(10): 1419