Gyn-Depesche 6/2022

Warum das Erlernen der Behandlung von Fehlgeburten das Erlernen von Schwangerschaftsabbrüchen nicht ersetzt

Der Verein Doctors for Choice Germany fordert, dass Schwangerschaftsabbrüche in die gynäkologische Weiterbildungsordnung aufgenommen werden (vgl. Arbeitskreis Frauengesundheit/ Doctors for Choice Germany 2020). Das bedeutet, Ärzt:innen, die die Weiterbildung für Gynäkologie und Geburtshilfe absolviert haben, sollten Schwangerschaftsabbrüche mit der medikamentösen und der Absaugmethode sicher durchführen können.
Lehrkrankenhäuser, die die volle Weiterbildungsberechtigung besitzen, sollten sicherstellen, dass ein Lehrangebot zu Schwangerschaftsabbrüchen existiert – entweder im eigenen Haus oder durch eine entsprechende Rotation in eine Klinik oder Praxis, wo Abbrüche durchgeführt werden.
Ein häufig genanntes Gegenargument ist, dass Ärzt:innen in gynäkologischer Weiterbildung die Durchführung der entsprechenden Methoden anhand der Behandlung von Fehlgeburten erlernen und dass dies ausreichend sei (siehe z.B. https://bit. ly/3NLWDu2).
Wir äußern uns in diesem Schreiben zu dieser Aussage in der Hoffnung, mehr Klarheit in die Diskussion zu bringen.
 
1. Fehlgeburten im ersten Trimenon werden in Kliniken fast ausschließlich operativ behandelt – die medikamentöse Methode wird somit in der Weiterbildung nicht erlernt.
Leider werden verhaltene Fehlgeburten im ersten Trimenon in Krankenhäusern im Allgemeinen operativ behandelt, obwohl die medikamentöse Methode oder ein abwartendes Vorgehen schonende und international erprobte alternative Behandlungsoptionen darstellen (Kim et al., 2017). Die medikamentöse Methode wird fast ausschließlich im ambulanten Sektor bei der Behandlung von Schwangerschaftsabbrüchen angewandt. Hieraus folgt, dass Ärzt:innen die medikamentöse Methode nicht erlernen, wenn sie ihre Weiterbildung ausschließlich im Krankenhaus absolvieren. Die medikamentöse Behandlung von Fehlgeburten und Schwangerschaftsabbrüchen im 2. Trimenon findet zwar in Krankenhäusern statt, unterscheidet sich in Beratung, Ablauf, Durchführung, Schmerzmanagement und Nachbehandlung jedoch erheblich vom medikamentösen Management der frühen Abbrüche.
 
2. Fehlgeburten werden zum Teil noch mit einer Ausschabung behandelt – die empfohlene operative Methode der Vakuumaspiration wird somit nicht systematisch in der Weiterbildung erlernt.
12,2 % der Schwangerschaftsabbrüche werden in Deutschland noch immer mit einer Ausschabung durchgeführt, einer seit Jahrzehnten überholten und weniger sicheren Methode, die von der WHO ausdrücklich nicht für den frühen Schwangerschaftsabbruch empfohlen wird. Auch bei der Behandlung von Fehlgeburten ist die Ausschabung leider eine verbreitete Methode. Uns liegen viele Beispiele von Kliniken vor, die keine Absauggeräte besitzen und daher Fehlgeburten (und Schwangerschaftsabbrüche, falls sie welche durchführen) ausschließlich mit der Ausschabung behandeln. Die Aufnahme des Schwangerschaftsabbruchs in den Ausbildungskatalog bedeutet, sich mit Qualitätsstandards auseinanderzusetzen und Behandlungsstandards vorzugeben. Dies nicht zu tun, hat konkrete gesundheitliche Nachteile für Frauen.
 
3. Es gibt medizinische Unterschiede zwischen einer Vakuumaspiration bei einer Fehlgeburt und der Vakuumaspiration bei einem Schwangerschaftsabbruch.
Wenn eine Klinik über Absauggeräte verfügt, so kann die Vakuumaspiration anhand von Fehlgeburten erlernt werden. Nach unserer praktischen Erfahrung gibt es aber durchaus feine medizinische Unterschiede. Diese umfassen z. B.: bei Abbrüchen auch größere biparietale Durchmesser entsprechend der 12. bis 14. Schwangerschaftswoche, während bei der gestörten Frühschwangerschaft der Fet in derselben Woche meist deutlich kleiner ist; der Muttermund ist bei Fehlgeburten häufig schon (teilweise) geöffnet, daher ist oft weniger mechanische Dilatation nötig; das Risiko einer fortbestehenden Schwangerschaft, insbesondere bei niedrigen Schwangerschaftswochen, existiert bei Fehlgeburten nicht. Idealerweise können Gynäkolog:innen mit der ganzen Bandbreite an medizinischen Anforderungen bei gestörten Frühschwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen gut und sicher umgehen.
 
4. Es geht nicht nur um die Technik.
Es geht darum, Schwangerschaftsabbrüche als selbstverständlichen Teil des eigenen Faches zu begreifen. Persönliche Vorbilder spielen eine große Rolle in der Medizin: Wir brauchen Ärzt:innen, die Abbrüche vornehmen, die im Team als Ansprechpartner: innen für dieses medizinische Thema fungieren und von denen Nachwuchs-Ärzt:innen lernen können.
In der Weiterbildung geht es außerdem darum, ärztliches Handeln und einen adäquaten Umgang mit Patient:innen zu erlernen. Die psychische Ausgangslage von Frauen ist bei Fehlgeburten oft ganz anders als bei Schwangerschaftsabbrüchen. Insbesondere bei Schwangerschaftsabbrüchen ist es wichtig, einen akzeptierenden und nicht bewertenden Umgang mit ungewollt Schwangeren vor, während und nach dem Eingriff zu erlernen sowie Erfahrungen mit den rechtlichen Besonderheiten zu sammeln. Das lässt sich nicht unter „Beratung“ einordnen, sondern ist Teil des Managements.
 
5. Die Aufnahme in die Weiterbildung hat eine wichtige Funktion für die medizinische Versorgung.
Internationale Studien haben gezeigt, dass die Anzahl der Abbrüche, die während der Weiterbildung absolviert wurde, sowie die Intensität, mit der Schwangerschaftsabbrüche in Medizinstudium und Weiterbildung behandelt werden, positiv mit der Bereitschaft korrelieren, später selbst Abbrüche durchzuführen (Pace et al., 2008; Steinauer/Turk 2021). Am Ende ist es auch eine politische Frage: Erkennen die gynäkologischen Fachgesellschaften und Berufsverbände sowie die Ärztekammer an, dass Schwangerschaftsabbrüche und reproduktive Gesundheit zur Gynäkologie dazu gehören, und setzen sie sich dafür ein, dass das Thema in Aus- und Weiterbildung adäquate Berücksichtigung findet und ihre ärztlichen Mitglieder zur Versorgung beitragen? Oder halten sie an der Stigmatisierung und Tabuisierung des Eingriffs fest und damit an Hürden, die Frauen den Zugang erschweren und die Behandlungsqualität mindern?
Alleine auf die Behandlung von Fehlgeburten zu verweisen, ist jedenfalls nicht ausreichend. Schwangerschaftsabbrüche sind einer der häufigsten Eingriffe in der Gynäkologie und müssen als Teil der Gynäkologie anerkannt werden – dazu gehört auch ihre Integration in den Weiterbildungskatalog. 
 
Autorinnen: Dr. med. Alicia Baier, Helga Seyler, Dr. med. Ines Tonke
Quelle:

Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychologie und Gesellschaft e.V./Doctors for Choice Germany e.V. (2020): »Stellungnahme zur Weiterbildungsordnung für Ärzt:innen, speziell für Frauenärzt:innen«, verfügbar unter: https://doctorsforchoice.de/2020/12/stellungnahme_akf_dfc_ wbo/ (letzter Zugriff: 21.10.2022)

Kim C, Barnard S, Neilson JP, Hickey M, Vazquez JC, Dou L: Medical treatments for incomplete miscarriage. Cochrane Systematic Review – Version published: 31 January 2017.

Pace L, Sandahl Y, Backus L, Silveira M, Steinauer J. Medical Students for Choice’s Reproductive Health Externships: impact on medical students’ knowledge, attitudes and intention to provide abortions. Contraception. 2008;78(1):31-5.

Steinauer J, Turk J. Integration of abortion into graduate medical education. In: Landy U, Darney PD, Steinauer J, editors. Advancing women’s health through medical education. CUP; 2021. p. 104.

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