Wenn Traurigkeit zur Krankheit wird

Gyn-Depesche 4/2015

Prolongiertes Trauersyndrom

Zertifizierte Fortbildung

Eine Trauerreaktion auf den schmerzlichen Verlust eines geliebten Menschen ist normal. Die Zeichen und Symptome der Trauer können aber auch länger als gewöhnlich andauern, dann spricht man von einem komplizierten Trauerverlauf. Und der hat langfristige soziale, psychische und physische negative Auswirkungen, die durch ein Erkennen und Therapieren vermieden werden können.

Zum Gefühl des schmerzlichen Verlustes kommt es z. B. durch den Tod eines geliebten Menschen. Ein derartiges Ereignis ist wohl das Schmerzlichste, was jemandem wiederfahren kann. Die Auswirkungen können physische, psychologische und soziale Dimensionen beinhalten. Trauer, die Antwort auf einen solchen schmerzlichen Verlust, beinhaltet eine Vielzahl psychologischer und physiologischer Symptome, die sich im Verlauf der Zeit entwickeln können. Die Manifestationen und der zeitliche Verlauf sind interindividuell unterschiedlich; dennoch gibt es typische Bilder und Gemeinsamkeiten, die man in der Praxis und bei der Betreuung trauernder Patienten erkennen kann.

Akute Trauer: noch normal?

Die Zeit der akuten Trauer beginnt, nachdem der Betroffene erkannt und gelernt hat, dass ein nahestehender Mensch gestorben ist. Sie kann Elemente der Separation und einer Stressantwort beinhalten. Die Sehnsucht und das Verlangen und schlicht die Traurigkeit können sehr ausgeprägt sein. Gedanken an und Bilder des Verstorbenen sind noch prominent vorhanden. Es kann vorkommen, dass der Trauernde sowohl die Stimme als auch dessen Körper wahrnimmt – eine benigne Form der Halluzination, deretwegen man nicht beunruhigt sein muss. Eine gewisse Ungläubigkeit oder einfach der Schock darüber, dass ein geliebter Mensch gegangen ist, sind normal. Ebenso kann es ein zunehmendes Zurückziehen von üblichen Aktivitäten geben. Psychologische Symptome wie Dysphorie, Angst, Depression oder Wut können vergesellschaftet sein mit physiologischen Reaktionen wie einer erhöhten Herzfrequenz, Hypertonus, Kortisolanstieg, Schlafstörungen oder Veränderungen des Immunsystems. Das Risiko von Myokardinfarkt, Takotsubo-Kardiomyopathie und Substanz-Missbrauch ist erhöht. Im Verlauf kommt es zur zunehmenden Adaptation an den Verlust, die von wechselhaften Emotionen geprägt ist. Insgesamt nimmt die Trauertiefe mit der Zeit ab und Zukunftspläne und Hoffnung übernehmen mehr und mehr das Ruder.

Komplizierter Trauerverlauf

Der Zustand des komplizierten Trauerverlaufes wird auch prolongiertes Trauersyndrom genannt. 2 bis 3% der Bevölkerung sind davon weltweit betroffen. Dieser Zustand ist von einer länger als gewöhnlich andauernden, intensiven und tiefen Trauer gekennzeichnet. Das tagtägliche soziale „Funktionieren“ des Betroffenen kann stark eingeschränkt sein. Nach dem Verlust eines Liebespartners kann die Prävalenz der komplizierten Trauer 10 bis 20% betragen. Nach dem Verlust eines Kindes liegt der Wert noch höher. Auch die Todesumstände können zu einem erhöhten Risiko eines prolongierten Trauersyndroms beitragen, so z. B. Suizid, Mord oder Unfalltod. Geringer ist das Risiko hingegen beim Verlust eines Elternteils, der Großeltern oder eines engen Freundes. Insgesamt ist das Vorkommen bei Frauen über 60 Jahren am häufigsten. Ohne eine adäquate Behandlung können die Symptome der komplizierten Trauer verzögert verschwinden oder sogar komplett persistieren – das zeigt die klinische Erfahrung.

Zahlreiche Risikofaktoren

Die Ursachen der komplizierten Trauer sind multifaktoriell. Neuropsychologische Studien haben gezeigt, dass es identifizierbare Risikofaktoren für eine unangemessene Trauerreaktion gibt. Dazu zählen z. B. Veränderungen im Belohnungssystem, die im funktionellen Hirn-Kernspin (fMRT) nachgewiesen werden können, Abnormalitäten des autobiografischen Gedächtnisses und neurokognitive Funktionen. Aber auch andere Gesundheitsprobleme können assoziiert sein: Schlafstörungen, Substanzabusus, Suizidgedanken und Immunsystemveränderungen. Herzkreislauferkrankungen und Krebs können negativ zur Gesamtsituation beitragen.

Anamnestisch scheinen Gemüts- und Angststörungen und Alkohol- und Drogenabusus das Risiko zu erhöhen. Insbesondere ein Mensch, der einen Angehörigen durch eine schwere Krankheit und in den Tod begleitet hat, und dabei eine Depression entwickelte, ist gefährdet, ein prolongiertes Trauersyndrom zu entwickeln.

Offizielle und klare Kriterien der komplizierten Trauer gibt es nicht; nicht einmal die Bezeichnung ist einheitlich. Im aktuellen DSM-5- Katalog findet sich die Bezeichnung „persistent complex bereavement disorder“ (in etwa „Erkrankung der persistierenden und komplexen Trauer“), aber auch von „prolongierter Trauerstörung“ wird gesprochen.

Management

Psychotherapie ist eine effektive Therapieform bei komplizierter Trauer. Zahlreiche Studien konnten das nachweisen und machen diese Intervention somit zur First-line-Therapie (vgl. Kasten „Therapiebausteine“). Hierbei werden zwei Bereiche angegangen: Restoration (z. B. das „Funktionieren“ wiederherstellen durch Enthusiasmus und Zukunftspläne) und Verlust (z. B. dem Patienten helfen, einen Weg zu finden über den Tod nachzudenken ohne intensive Gefühle wie Wut, Schuld oder Angst zu erleben). Jeder dieser Bereiche sollte mit 16 wöchentlichen Stunden Psychotherapie angegangen werden. Am Ende jeder Sitzung wird die Trauertiefe evaluiert und Aktivitäten für die Woche geplant.

Pharmakotherapie

Daten aus randomisierten Studien gibt es zur medikamentösen Therapie des prolongierten Trauersyndroms keine. Dennoch werden in der Praxis häufig Antidepressiva verschrieben. Fünf Open-label-Studien (mit insgesamt gerade einmal 50 Patienten) konnten zeigen, dass Antidepressiva bei komplizierter Trauer hilfreich sind. Für Benzodiazepine wurde kein Benefit nachgewiesen. Zudem können Antidepressiva die Psychotherapie unterstützen und zu besseren „Durchhalteraten“ führen. CB

 



Hinweis: Dieser Artikel ist Teil einer CME-Fortbildung.

Therapiebausteine
  • Die Lage (er-)klären: Diskussion über die Natur des Verlustes, über Trauer und deren Adaptationsprozesse
  • Selbstregulation unterstützen: Selbstbeobachtung und Reflexion; Dosierung des emotionalen Schmerzes
  • Netzwerken: Strategien finden, um sinnhafte Kontakte zu anderen Personen zu schließen, um Schmerz zu teilen und Hilfe zuzulassen
  • Ziele setzen: Persönliche Ziele und Aktivitäten (wieder)finden; Enthusiasmus und Hoffnung erleben
  • Die Welt wieder erleben: Strategien finden, um sich mit bislang vermiedenen Situationen zu konfrontieren
  • Die Geschichte erzählen: Reflexion über die „Geschichte“ des erlebten Todes und daraus eine für den Patienten akzeptierbare Tatsache machen
  • Gedächtnis verwenden: Positive Gedanken an den Verstorbenen ins Gedächtnis rufen, aber auch negative Erinnerungen zulassen; imaginäre Konversationen beschreiben
Quelle:

Shear MK: Complicated grief. N Engl J Med 2015; 372: 153-60

ICD-Codes: F99
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