Lotterielos-Effekt

Gyn-Depesche 4/2022

Zwillinge folgen der Stochastik

Sind Zwillingsschwangerschaften ein Zeichen für eine höhere Fertilität? Bislang war das wissenschaftlicher Konsens – eine neue Analyse von Daten aus dem vorindustriellen Europa belegt jedoch das Gegenteil.
Ein multinationales Forschungsteam unter Berliner Leitung analysierte mehr als 100.000 Geburtseinträge in Kirchenbüchern des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts aus verschiedenen Regionen Nord- und Mitteleuropas. 1.634 der insgesamt 21.290 Mütter hatten Zwillinge geboren.
Zwar bestätigte sich zunächst das Ergebnis zahlreicher älterer Studien, dass Zwillingsmütter im Schnitt mehr Kinder bekommen hatten als Nichtzwillingsmütter, auch wenn man eine Zwillingsgeburt nur als eine Geburt rechnete. Das lag aber keineswegs an einer höheren Fruchtbarkeit der Zwillingsgebärenden, wie die Forschenden durch weitere Analysen herausfanden: Als sie intrinsische Fertilitätsfaktoren berücksichtigten – etwa das Intervall zwischen zwei Schwangerschaften oder die Gesamtlänge der reproduktiven Phase – stellte sich heraus, dass Frauen mit einer höheren Zwillingswahrscheinlichkeit pro Geburt statistisch sogar weniger Kinder bekamen.
Die bisherigen Studieninterpretationen seien einem sogenannten ökologischen Fehlschluss aufgesessen, erklärten die Studienautorinnen und -autoren: Man habe von den Daten eines Kollektivs unzulässigerweise auf Individualdaten geschlossen. Eine Vielzahl von Faktoren, die die Geburtenhäufigkeit einer Frau beeinflussen, wurde dabei ignoriert. Dass unter Vielgebärenden eine höhere Zahl von Zwillingsmüttern ist, sei vielmehr die Folge eines Lotterielos-Effekts: Je mehr Kinder eine Frau bekommt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Zwillingsgeburt dabei ist. CW
Quelle: Rickard IJ et al.: Mothers with higher twinning propensity had lower fertility in pre-industrial Europe. Nature Communications 2022; doi: 10.1038/s41467-022-30366-9

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